Jeder, der kann, verlässt das Land
Der Andrang bei der Passbehörde in Kabul ist so groß wie noch nie. Da es zu viele Antragsteller gibt, werden die Passanträge nur von 6.00 bis 7.00 morgens angenommen. Wer danach kommt, wird abgewiesen und muss am nächsten Tag erneut antreten. Täglich werden zwischen 1.000 und 3.000 neue Pässe ausgestellt und dies allein in Kabul.
Wer in Afghanistan einen Reisepass beantragt, will das Land wohl verlassen und erst dann zurückkehren, wenn Frieden herrscht. Wann wieder Frieden in Afghanistan herrschen wird, kann niemand sagen.
Hamida und Abdul haben Glück und ihre Anträge werden angenommen. Sie sollen in fünf Wochen zur Abholung der Pässe wiederkommen. Hamida und ihr Ehemann Abdul fürchten die grausamen Taliban, denn Abdul wurde schon einmal ins Gefängnis gesteckt, als die Taliban 1997 Kabul erobert haben. Abdul arbeitet als LKW Langstreckenfahrer und verdient nur sehr wenig. Er und seine Frau haben sieben Kinder. Vier sind von der eigenen Familie, drei sind Nichten. Der Bruder von Abdul ist vor zehn Jahren bei einem Autounfall gestorben. Die Schwägerin von Abdul hat noch einmal geheiratet. Nach afghanischem Recht durfte sie die Kinder nicht behalten. So hat der Onkel die Kinder zu sich genommen und erzieht sie, als wären sie seine eigenen Kinder. Die älteste Tochter will Sängerin werden und hat sich an der Kabuler Universität für den Studiengang Musik eingeschrieben. Doch momentan sieht es schlecht aus, mit einer Karriere als Sängerin.
Schlecht sieht es auch mit Afghanistan aus. Viele Afghanen fürchten, was kürzlich in Kunduz passiert ist, kann in anderen Städten auch passieren.
Die Familie sieht keine Zukunft mehr und will nach Europa.
Vielleicht nach Deutschland, vielleicht nach Großbritannien.
Abdul hat vor einigen Jahren ein kleines Häuschen in Kabul geerbt. Das will wer verkaufen. Eine Flüchtlingsreise nach Deutschland kostet etwa 10.000 USD pro Person, so sagt er. Das zweistöckige Haus hatte vor fünf Jahren noch einen Wert von über 200.000 USD - die Grundstückspreise waren zu diesem Zeitpunkt horrend. Es wurde viel Geld durch die internationale Gemeinschaft in Afghanistan investiert, und die Grundstückspreise sind mit den Jahren gestiegen. Seit 2012 fallen sie, weil die Hilfen nun zurückgehen. Jetzt - wenn er Glück hat - bekommt er dafür 70.000 USD. Genau diese Summe braucht die Familie für die Flucht.
David Majed, Kabul
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen