Sonntag, 23. März 2014

Jeanno Gaussi - eine Künstlerin in Berlin, geboren in Kabul

Jeanno Gaussi

In der Galerie "koal" in der Brunnenstraße 25 b in Berlin-Mitte gibt es zur Zeit Arbeiten einer Künstlerin von internationalem Rang zu sehen, die 1973 in Kabul geboren wurde, das Land 1978 verließ, in Berlin, Delhi und wieder in Berlin lebte, und mehrmals nach Kabul zurückkehrte, weil sie das Gefühl hatte, dass sie dort etwas finden könnte, das ihr in ihr selbst verborgen ist: Jeanno Gaussi.
Die Auseinandersetzung mit dem zerstörten Land ihrer Herkunft, ihrer eigenen mehrfachen kulturellen Identität und der Neu-Erfindung von Mythen, Ikonen und Möglichkeiten bestimmt ihre künstlerische Arbeit. Sie studierte und arbeitete in vielen Ländern des Nahen Osten, Pakistan, USA u.a., erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien und wurde zur documenta (13) 2012 eingeladen.
Der Berliner Galerist Stephan Koal stellt uns hier freundlicherweise einige Fotos der Ausstellung zur Verfügung.
Die Stuckdecke und Helligkeit des Berliner Altbaus verleiht der Zusammenstellung einen eigenen, zusätzlichen Reiz: Die ausgestellten Objekte scheinen im Raum zu schweben, aus Zeit und Umgebung herausgenommen, sie leuchten. 
Vielleicht der Schwebezustand des gesellschaftlichen Umbruchs, den sie beleuchten ... und der Art, wie die Künstlerin Bruchstücke kultureller Elemente neu zusammenfügt.
 


"War Rug Project"
 

Die Mäntel, Chapan und Peraan genannt, das Gewand eines einfachen wie das eines reichen Mannes, Symbole männlicher / gesellschaftlicher Macht sowie der Tradition, sind hier mit einem irritierenden Futter versehen: poppige Flugzeuge, Waffen, Panzer und ein kleines Reh sind in schablonenhafter Form aufgedruckt. Wie Vogelscheuchen wirken die Gewänder auf den metallischen Garderobenständern. Nutzlos geworden? Erstarrt? Ornamente, deren traditionelle Funktion es ist, den Bezug zur Ewigkeit herzustellen (W. Siano) und sonst ganz andere Musterelemente haben, werden hier umge"münzt" und mit kriegerischen Motiven zusammengedacht - ist das der neue Zeitbezug: der Krieg? Ist es eine boshafte Satire auf jene Ewigkeit, in deren Namen Männer Kriege führen? Ist es die gelebte Ambivalenz dieser Männer, die unfreiwillig in den Krieg hineingerieten und ihn dennoch mitführten?
Jeanno Gaussi bezieht sich auf sogenannte Kriegsteppiche, die es in Afghanistan seit drei Jahrezehnten etwa gibt, Teppiche, in die aktuelle Kriegsdarstellungen eingewebt werden, einer eigenwilligen Form der Bewältigung des Alltags eines Lebens im Krieg, der in Afghanistan seit Jahrzehnten herrscht.



"War Rug Project"


Links im Raum  stehen bemalte Skateboards, die auf Spiegeln stehen, so dass man auch ihre Unterseite sehen kann - ähnlich wie bei den Mänteln die sonst verborgene Innenseite. Die zierlichen Böcke, die schräge Anordnung der Spiegelflächen wirken selbst wieder wie Vehikel oder sonderbare Vierbeiner.

"Dreams on Wheels" 2013

Die Skateboards sind nicht benutzt, ihre Räder und der bunte Lack glänzen. Alltagsgegenstände (Sport, Spiel, Freizeit) in westlichen Städten, hier erhoben zu Kunstgegenständen: Jeanno Gaussi fand in Kabul einen "truckpainter", der normalerweise Lieferwagen, LKWs und Busse bemalt, eine eigene Tradition in Pakistan, Indien und Afghanistan. Nach den Ideen und Wünschen ihrer Besitzer werden die Motive entwickelt.
(Auf meiner fb-Seite findet sich ein Foto von zwei in solcher Weise bemalten Fahrzeuge, die sich "küssen" Tanja Langer Facebook / Afghan Street Photography)
Jeanno Gaussi bat diesen Mann, dessen Name leider nicht genannt wird, die kleinen westlichen "Straßenvehikel", die Skateboards, zu bemalen. Die Motive sind Traumlandschaften, Tiere, phantastische Welten, aber auch ein alter "Hippiebus". Hier:

Skateboard mit Hippiebus, auf der Unterseite ein Löwe Foto:TL

Dieser Bus erinnert zum einen an eben jene bunt bemalten Gefährte in den Straßen von Kabul und anderswo, aber er lässt auch die Assoziation an einen Hippiebus zu, weshalb wir ihn hier einfach so nennen. In den Siebzigern galt Afghanistan neben Indien als eines der Traumziele junger westlicher Reisender, frei, wild, gastfreundlich und von großer Schönheit.
In unserem Roman erzählt Noor Mahboob von ihrer Mutter, die als junge Frau den Weg Richtung Osten genommen hatte, bis nach Afghanistan über Land, sechstausend Kilometer in einem bunten VW-Bus, mit einer Gruppe von Freunden, die Musik liebten und Haschisch. Wie einige von ihnen dann im gelobten Land Afghanistan dem Heroin verfielen, das dort spottbillig war ...
(Kap. 2, 18) Der Hippiebus: Erinnerung an eine Zeit, als nicht Soldaten das Land bereisten, sondern sorglose, wenn auch befremdlich vergnügungssüchtige Touristen (als Vorboten des Kapitalismus?)? Oder erzählt dieser Bus von den glücklichen, friedlichen Zeiten, in denen die Einwohner Afghanistan einst durch das eigene Land fuhren, ohne von Bomben bedroht zu werden?

Auf der Unterseite dieses Hippiebus-Skateboards sieht man einen Löwen.
Im Zoo von Kabul (den Mahboob mit seinem Vater besucht) gab es lange Zeit als fast einziges Tier den einäugigen Löwen Marjan, um dessen Kraft und Mut sich verschiedene Geschichten ranken und der für viele Kabulis der Inbegriff ihres eigenen Stolzes war. (Manche sagen, es sei der traurigste Zoo der Welt.)
Aber vielleicht handelt es sich hier auch um einen ganz anderen Löwen.
Hier noch ein Skateboard mit einer - Madonna.
"Dreams on Wheels" mit Madonna

Im Kabuler Zoo fand Jeanno Gaussi auch jenen Mann, der Passanten fotografiert und in eigenwilligen Porträts von "Ordinary Heroes" neugestaltet. Sie kaufte ihm einige ab und zeigt sie hier (s. website der Galerie:  http://www.galeriekoal.com/exhibitions/current)

Jeanno Gaussi lässt in ihrer Arbeit die Erinnerung an verschiedene Traumelemente - wie kulturelle Elementarteilchen - auf das Skateboard als Inbegriff urbaner, spielerischer Mobilität treffen.
Was ist vertraut - unvertraut in einer Welt, in der Pop und brüchig gewordene Mentalitäten sonderbare Gleichzeitigkeiten ausbilden?
Sie selbst spricht von einer neuen Kontextualisierung von Fragmenten kulturellen Materials, und wie es im sehr liebevoll und hilfreich geschriebenen Begleitblatt der Galerie heißt, sucht sie "nach Spuren dessen, was die Gesellschaft heute ausmacht, jenseits der bekannten, alles erstickenden Bilder von Terror und Tod. Sie findet neue Ikonen, die Halt geben in einem Land ohne Sicherheiten, die zum Inventar der Selbstdefinition wurden für eine Generation, die im Krieg aufgewachsen ist."

Mir persönlich gefällt Jeanno Gaussis kritischer und erfinderischer Blick auf eine Alltagswelt, in der sich einerseits kriegerische Gedanken manifestieren - und andererseits Menschen sich mit Phantasie gegen die Zerstörung behaupten. Ich mag die Vieldeutigkeit ihrer Objekte, in denen man immer mehr entdeckt, je länger man sich mit ihnen beschäftigt, und ihre farbenfrohe Ausdruckskraft, die Jeanno Gaussi in Afghanistan vorgefunden und aufgegriffen hat. 

TL

Bis zum 29.3. kann man die Ausstellung in Berlin noch sehen.



Ein sehr gutes Interview: http://blogs.artinfo.com/berlinartbrief/2012/06/18/jeanno-gaussis-afghan-roots-at-documenta-13/ und http://universes-in-universe.org



 http://www.galeriekoal.com/exhibitions/current

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